Die Allsehenden Augen der Großen Mutter: Seshat → Buddha-Augen → Chartres

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Joerg Roth
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Die Allsehenden Augen der Großen Mutter

Einleitung

Auf meiner 10-tägigen Ägyptenreise habe ich einige bemerkenswerte Entdeckungen gemacht, die ich hier teilen möchte. Angefangen hat es in Abydos, als ich auf einem Djed-Pfeiler die Udjat-Augen gesehen habe – und zwar direkt auf dem Pfeiler, nicht daneben. Diese Darstellung ist extrem selten, und etwas an ihr hat mich sofort an die Buddha-Augen in Bodnath und an die Augen der Schwarzen Madonna in Chartres erinnert.

Als ich mich anschließend intensiver mit Seshat, der „ersten Geomantin“ der Welt, beschäftigt habe, wurde aus dieser spontanen Assoziation plötzlich eine klare Linie: Ein einziger archetypischer Blick durchzieht Ägypten, Tibet und das gotische Europa.

Das Auge und die Weltachse als Symbole des erwachten Ortes

Die “sehende Säule” in Abydos

Wir finden in Abydos eine höchst außergewöhnliche Darstellung: Udjat-Augen direkt auf einem Djed-Pfeiler. Das bedeutet, dass die Achse selbst aufwacht – sie sieht, sie wird bewusst. Der Ort wird zum bewussten Mittelpunkt der Welt.

Die Udjat-Augen (von udjat “das heile, das unversehrte Auge”, bezogen auf das Auge des Himmelsfalken und Schöpfergottes Horus) sitzen genau dort, wo beim Menschen der Übergang vom Hals zum Kopf wäre - zwischen den oberen Segmenten der „Wirbelsäule“. Der Djed-Pfeiler, das Rückgrat des Osiris, steht für Stabilität, Wiederauferstehung und die Verbindung zwischen Unterwelt, Erde und Himmel. Er ist die altägyptische Form der axis mundi.

Wenn Abydos der Ort ist, an dem der Kopf des Osiris ruht, dann bildet dieser Kopf zusammen mit der Wirbelsäule des Djed die sehende Weltachse. Genau das zeigen diese Augen.

Die Buddha-Augen von Bodnath

Quelle: Wikipedia

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Buddha-Augen an den Stupas, besonders eindrucksvoll in Bodnath. Zwei große Augen, leicht nach außen und oben gerichtet, darüber die Urna als drittes Auge, darüber wiederum die dreizehn goldenen Ringe – die himmlische Achse bis zum Gajur, der den Berg Meru, das Zentrum des Universums, markiert.

Auch hier finden wir den gleichen Archetyp: Die Achse sieht.

Was in Ägypten der Djed ist, ist im tibetischen Kontext die Sushumna, der zentrale Energiekanal der Wirbelsäule. Die Stupa verkörpert den erwachten Körper des Buddha – und ihre Augen blicken in alle vier Richtungen. Das allsehende Bewusstsein.

Die Schwarze Madonna von Chartres

Quelle: https://www.interfaithmary.net/black-madonna-index/chartres

Die Schwarze Madonna von Chartres steht im Mittelpunkt der Kathedrale, direkt über dem uralten Kraftpunkt der Krypta. Sie „öffnet“ die Achse zwischen Himmel und Erde, aber sie tut es auf die Art der dunklen Göttin: still, empfangend, tief.

Ihr Blick – groß, weit, fast ägyptisch – ist auffällig. Auch hier liegt ihr Kind genau auf der Achse, das Jesuskind als Verbindungspunkt zwischen oben und unten.

Die Madonna verweist nicht nur auf Maria, sondern auf eine viel ältere Tradition der Schwellenhüterinnen: Göttinnen, die Dunkelheit, Erde, Tiefe und Wiedergeburt verkörpern.

Vergleich der Augen

Ein Vergleich der Augen zeigt die Ähnlichkeit ganz deutlich. Das dritte Bild ist die Notre-Dame de la Belle Verrière von der Kathedrale in Chartres. Von der Schwarzen Madonna (Notre-Dame-de-Sous-Terre) habe ich leider kein hochauflösendes Bild zum Vergleich gefunden.

Die Göttinnen: Seshat, Nephthys und die Schwarze Madonna

Seshat – Die Vermesserin des Himmels

Quelle: https://www.worldhistory.org/image/6055/seshat-luxor-temple/

Seshat verkörpert Geometrie, Messkunst und die Ausrichtung von heiligen Orten. Ihr Name bedeutet „die Schreiberin“ und sie ist Schutzherrin der Schreiber, der Baumeister, der Bibliotheken und des Königs. Sie wird oft mit einem siebenstrahligen Stern oder einer Rosette als Kopfschmuck und einer Raubkatzenhaut (Pantherfell) dargestellt. Sie führt das Ritual des „Dehnens der Schnur“ durch, das Fundament jedes Tempels – und somit auch Fundament der heiligen Achse selbst. Ihr siebenstrahliger Stern weist sie als kosmische Architektin aus.

Sie soll auch in Beziehung zu dem Gott Thot stehen. Allerdings wechselte der Charakter dieser Verwandtschaft, so dass sie sowohl als seine Schwester, seine Tochter, als auch als seine Gattin dargestellt wurde. Ihre Hörner auf dem Kopf könnten ursprünglich eine Mondsichel dargestellt haben, was ihre Verbindung zum Mond und zu ihrem Partner Thot verdeutlicht.

Nephthys – Hüterin von Tod und Geburt

Quelle: https://www.worldhistory.org/image/4621/nephthys-amulet/

Nephthys, die „Herrin des Tempels“, steht für Schwellen: Geburt, Tod, Transformation. Sie ist eine Göttin der Nachtseite, die Räume öffnet, die nicht gesehen werden – und doch sehen.

Sie ist eine wichtige, wenn auch oft im Schatten stehende Figur in der Mythologie von Osiris, die dunkle Schwester von Isis.

Die Schwarze Madonna – Das europäische Echo

Quelle: Wikipedia

Die Schwarzen Madonnen Europas sind direkte Erbinnen dieser beiden Göttinnen. Sie stehen auf uralten Kraftpunkten – Chartres, Einsiedeln, Tschenstochau – und wirken als Hüterinnen der Achse, als Bewahrerinnen des Ortes. Ihre Augen spiegeln die gleiche Dunkelheit wie Nephthys und die gleiche kosmische Ordnung wie Seshat.

Schlussfolgerung

Wir sehen eine durchgehende Linie: Göttinnen – Achsen – Geometrie. Chartres ist nicht der Endpunkt, sondern ein europäischer Knoten im selben Faden, der sich von Abydos über den Himalaya bis nach Frankreich zieht.

Wer einmal in die Augen der Belle Verrière geschaut hat, erkennt diesen Blick überall wieder – in Abydos, in Dendera, in Bodnath, in Einsiedeln, in Tschenstochau.

Sie hat uns nie aus den Augen verloren.